Biodiversität und Stadtentwicklung – ein ungleiches Paar?

Auf der Erde wird es zunehmend enger, denn die Weltbevölkerung wächst. Und zwar stetig. Im Schnitt kommen pro Tag 220.000 neue Erdbewohner hinzu. So viel, wie die Stadt Mainz Ende 2022 an Einwohnern verzeichnete. Wenn die Berechnungen der Vereinten Nationen zutreffen und die Weltbevölkerung in den nächsten Jahren um weitere 1,7 Milliarden ansteigt, dann würden 2050 knapp zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Was bedeutet dieses Bevölkerungswachstum für den Lebensraum Erde? Experten sind sich einig: Biodiversität ist für das Überleben der Menschheit essenziell. Dass sie als gefährdet gilt, stellt eine ernsthafte Bedrohung dar. Städte übernehmen in diesem Kontext eine neue Rolle. In der Stadtplanung und -entwicklung findet bereits ein Umdenken statt.
BPD Magazin Nr. 18
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Der Lebensraum Erde ist einzigartig

Biodiversität ist zum Megathema des 21. Jahrhunderts avanciert. Denn Biodiversität bildet die Grundlage dafür, dass auf der Erde überhaupt Leben stattfinden kann. Und diese Grundlage ist ernsthaft bedroht. Obwohl es um das Überleben der Menschheit geht, ist Biodiversität allerdings für Viele immer noch ein sehr abstrakter Begriff. Worum geht es konkret? Die Vereinten Nationen haben mit ihrer Biodiversitätskonvention 1992 für Klarheit gesorgt. Danach ist mit Biodiversität die Artenvielfalt, die genetische Vielfalt und die Vielfalt von Ökosystemen aller lebenden Organismen gemeint (1). Auf dem Land, im Wasser und in der Luft. Vereinfacht gesagt, geht es um den einzigartigen Lebensraum Erde in seiner Gesamtheit. Denn er bietet einer Vielzahl verschiedenster Arten Platz, die sich an die spezifischen Bedingungen der unterschiedlichsten Lebensräume angepasst haben. Selbst in der für Menschen unwirtlich anmutenden Wüste existiert Leben. Das gibt es so in dieser Art und Weise auf keinem anderen Planeten. Zumindest Stand heute.

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Das Artensterben als Synonym für Biodiversität

Wie viele Arten es auf der Erde tatsächlich gibt, ist immer noch nicht zu 100 Prozent erforscht. Es gibt nach wie vor blinde Flecken. Die gute Nachricht ist: Sie werden weniger. So ist es den Forschenden des Leibniz Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels, Bonn, gelungen, im vergangenen Jahr 172 neue Tierarten zu entdecken und zu beschreiben. Und immer wieder kommen neue hinzu. Diese Neuentdeckungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine weitaus größere Anzahl an Arten vom Aussterben bedroht ist. Der 2019 vom Weltbiodiversitätsrat veröffentlichte Bericht zu Biodiversität und Ökosystemleistungen beschreibt ein düsteres Bild: „Der Zustand der Natur verschlechtert sich dramatisch. Bis zu einer Million Arten sind vom Aussterben bedroht, viele davon bereits in den nächsten Jahrzehnten.“

Das internationale Gremium „Intergovernmental Science Policy Platform of Biodiversity and Ecosytem Services (IPBES)“ (2) wurde 2012 gegründet und hat sich zur Aufgabe gemacht, die Politik zum Thema biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen wissenschaftlich zu beraten. Zwar führt der Rat selbst keine eigenen Forschungsarbeiten durch, vielmehr werden dafür Experten nominiert. Doch die Berichte über den aktuellen Zu- und Wissensstand zur biologischen Vielfalt und der Leistungen, die Ökosysteme für die Menschen erbringen, finden regelmäßig weltweit Gehör. Aus gutem Grund: Mit Deutschland haben sich weitere 141 Staaten dem Rat angeschlossen. Das sind zwei Drittel aller Staaten, die als solche anerkannt werden. Aus dem letzten veröffentlichten globalen Bericht wurde deutlich: „75 Prozent der Landoberfläche und 66 Prozent der Meeresfläche sind stark verändert. Über 85 Prozent der Feuchtgebiete sind verloren gegangen.“

Gerät ein Ökosystem aus dem Gleichgewicht, hat das nicht selten gravierende Folgen für die biologische Vielfalt. Im Schnitt sterben pro Tag 150 Tier- und Pflanzenarten aus. Das Artensterben gilt deshalb als Synonym für Biodiversität. Die seinerzeit amtierende Bundesumweltministerin, Svenja Schulze, konstatierte bei der Vorstellung des IPBES-Berichts: „Die Menschheit sägt an dem Ast, auf dem sie sitzt. Die Natur ist in einem immer schlechteren Zustand. Die Menschen sind dabei, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören.“

Der Zustand der Natur verschlechtert sich dramatisch. Bis zu einer Million Arten sind vom Aussterben bedroht, viele davon bereits in den nächsten Jahrzehnten.
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In Arbeit: EU-Bodengesundheitsgesetz

Land- beziehungsweise Bodendegradierung gilt als eine der Hauptursachen dafür, dass die biologische Vielfalt in Schieflage geraten ist. Es ist ein schleichender Prozess, der dazu führen kann, dass Boden unwiederbringlich verlorengeht. „Die stetige Ausbreitung und nicht nachhaltige Bewirtschaftung von Acker- und Weideland ist der weltweit größte direkte Verursacher der Landdegradierung und verursacht einen erheblichen Verlust an biologischer Vielfalt und Ökosystemleistungen“, heißt es dazu seitens des Weltbiodiversitätsrats. Das Ergebnis verwundert kaum: Weltweit wird ein Drittel der Landmassen als Ackerland genutzt. Davon weisen etwa 20 Prozent bereits Degradationserscheinungen auf, in der EU sind es schon 35 Prozent (3). Die Europäische Union will deshalb nicht länger tatenlos zusehen, denn sie betrachtet Boden als „Schlüssellösung für die Herausforderungen unserer Zeit“.

Die EU-Kommission hat also eine Bodenstrategie formuliert, um

  • die nachhaltige Bodenbewirtschaftung zur neuen Norm zu machen
  • Wüstenbildung zu verhindern
  • Bodenverschmutzung zu vermeiden
  • sowie geschädigte Böden wiederherzustellen und schadstoffbelastete Flächen zu sanieren.

 

Das erklärte Ziel: Bis 2050 sollen sich alle Bodenökosysteme in der EU „in einem gesunden Zustand befinden und somit widerstandsfähiger“ werden. Dazu soll idealerweise noch 2023 ein so genanntes Bodengesundheitsgesetz (Soil Health Law) auf den Weg gebracht werden (4).

75 Prozent der Landoberfläche und 66 Prozent der Meeresfläche sind stark verändert. Über 85 Prozent der Feuchtgebiete sind verloren gegangen.

Ein „weiter so“ ist nicht die Antwort

Die Crux ist: Der Schutz der Biodiversität ist ein komplexes, vielschichtiges Thema. Vieles ist bislang noch nicht hinreichend erforscht. Geschweige denn verstanden. Mithin gibt es auch nicht die eine Lösung, den einen Weg. Hinzu kommt: Gut gemeint bedeutet nicht immer auch gut gemacht. Gleichwohl besteht Konsens darüber, dass ein „weiter so“ nicht die passende Antwort sein kann.

Über acht Milliarden Menschen benötigen schließlich Nahrung. Die intensive Verwendung von anorganischen Düngemitteln, der Anbau von Monokulturen sowie die Vernichtung der Vegetationsdecke durch Abholzung, Brandrodung oder Überweidung zählen allerdings zu den Haupttreibern der Landdegradierung. Ebenso wenig zuträglich ist es, wenn Jahr für Jahr weltweit 400 Millionen Tonnen Plastik produziert werden und etwa ein Drittel des Plastikmülls in Böden oder Gewässern landet und dadurch ihre Ökosystemleistungen zusätzlich gefährdet beziehungsweise geschädigt werden.

Gesunde Böden sind die Voraussetzung dafür, Menschen zu ernähren. Eine Zerstörung dieser Grundlage stellt somit eine ernsthafte Gefährdung dar. Wie ernst die Lage insgesamt ist, verdeutlicht zudem der Erdüberlastungstag (Earth Overshoot Day). Der Tag markiert den Zeitpunkt, an dem die Menschheit alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht hat, die die Erde innerhalb eines Jahres zur Verfügung stellen kann. 2023 fiel er auf den 2. August. Würden jedoch alle Menschen auf der Welt so leben und wirtschaften wie in Deutschland, wäre die Erde 2023 bereits am 4. Mai an ihre Grenzen gestoßen.

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Städte ziehen an

Außer Nahrung braucht jeder Mensch zudem noch ein Dach über dem Kopf. In absehbarer Zeit wird die Weltbevölkerung die Marke von zehn Milliarden erreichen. Zur Jahrtausendwende war ein Prozent der Erdoberfläche mit Städten bebaut, in denen bereits die Hälfte der Weltbevölkerung lebte. Die Attraktivität der urbanen Lebensräume hat seitdem nicht nachgelassen. Im Gegenteil: Statt drei leben inzwischen rund 4,6 Milliarden Menschen in urbanen Siedlungsräumen. Damit bewohnt mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung etwa drei Prozent der Erdoberfläche.

Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Sogwirkung weiter anhalten und die Verstädterung zunehmen wird. Erwartet wird, dass sich bis 2050 voraussichtlich 80 Prozent der Weltbevölkerung auf die Metropolen verteilt. Diese Entwicklung ist mit etlichen Herausforderungen verbunden. Nicht nur die Versorgung der Menschen muss sichergestellt sein. Vielmehr müssen auch sämtliche Infrastrukturen mitwachsen. Und nicht zuletzt braucht es Flächen für die Schaffung von Wohnraum.

264 Millionen. In Berlin gibt es rund 264 Millionen Bienen – rund 68 x mehr als Einwohner

Urbanes Grün braucht vielfältige Funktionen

Auch in Europa reift das Bewusstsein für die Bedeutung der Städte und den Aufgabenstellungen, die mit dem Bevölkerungswachstum verbunden sind. Dabei spielen Maßnahmen zum Erhalt der Biodiversität in der Stadtplanung und -entwicklung eine zunehmend wichtigere Rolle. Denn der Subkontinent mit seiner polyzentrischen Siedlungsstruktur gehört zu den dichter besiedelten Teilen der Erde und ist in den letzten Jahrzehnten stark urbanisiert.

Auf etwa 10,5 Millionen Quadratkilometern leben heute rund 750 Millionen Menschen. 40 Prozent mehr als 1945. Im gleichen Zeitraum sind 80 Prozent der gesamten europäischen Bausubstanz entstanden. Das entspricht einem Zuwachs von nahezu 400 Prozent. Um die Lebensqualität in verdichteten Strukturen zu gewährleisten, braucht es allerdings auch Freiräume. Dabei geht es nicht einfach nur um die Bereitstellung von Grünflächen. Vielmehr besteht Konsens darüber, dass urbanes Grün vielfältige Funktionen übernehmen muss. Nebst sozialen, kulturellen und identitätsstiftenden Effekten geht es auch darum, dass grüne Infrastrukturen positiven Einfluss auf das Stadtklima und die biologische Vielfalt nehmen sollen.

Expertinnen und Experten sind sich einig: Grüne Infrastrukturen können einen Beitrag dazu leisten, Städte und Regionen nachhaltig, lebenswert und resilient zu machen. Die „Neue Leipzig-Charta 2020“, die am 30. November 2020 von allen für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Minister der EU-Mitgliedsund Partnerstaaten verabschiedet worden ist, trägt diesem Gedanken Rechnung. Eine Stadt soll „gerecht, grün und produktiv“ sein. Die Charta ruft Städte sogar explizit dazu auf, „gefährdete Ökosysteme und die dort lebenden Arten zu schützen und zu ihrer Regenerierung beizutragen“ (5).

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„Grüne Infrastruktur“ ist multifunktional

Diesen Aufruf gilt es in Einklang mit dem Bedarf an neuem Wohnraum zu bringen. Denn eine Stadt soll nicht nur grün, sondern darüber hinaus auch gerecht sein. Im Sinne der Charta ist das gegeben, wenn „verschiedene gesellschaftliche Gruppen“ auch Zugang zu „angemessenen, sicheren und bezahlbaren Wohnungen“ haben. Branchenverbände, Marktteilnehmer und Politik sind sich in diesem Punkt einig: Ohne Neubau, wird sich die Wohnungsnachfrage nicht befriedigen lassen. Bei der Planung und Entwicklung neuer Wohngebiete beziehungsweise Stadtteilquartiere wird daher inzwischen eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen, um qualitativ nachhaltige Freiräume zu schaffen. Nicht selten übernehmen diese überlagernde Funktionen: Dach- und Fassadenbegrünungen können beispielsweise einen Beitrag zur Kühlung des Mikroklimas leisten und gleichzeitig als Habitat für verschiedene Lebewesen die Biodiversität stärken.

Auch die Nutzbarmachung der Dachflächen für den Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern schafft auf mehreren Ebenen Synergien. Das Pflanzen von heimischen Bäumen, Hecken und Sträuchern sowie Anlegen von Blühwiesen sind weitere elementare Bausteine, um die grüne Infrastruktur in den Wohnquartieren und Städten langfristig zu festigen. Sie bieten wichtige Lebens- beziehungsweise Rückzugsräume für verschiedene Arten und tragen zugleich zur Reduktion der Luftverschmutzung bei. Gleiches gilt für die Renaturierung von Bächen und Gewässern. Effiziente, angepasste Beleuchtungskonzepte, bei denen sich die Lichtmenge und -intensität danach richtet, was in der Dunkelheit, wann und wo benötigt wird, vermindern die Beeinträchtigungen der Tier- und Pflanzenwelt.

50,7 % - das ist der Anteil der Fläche, die in Deutschland landwirtschaftlich genutzt wird.

Grüne Infrastrukturen sind die Lebensadern einer Stadt

Smart City ist in diesem Kontext der relevante Schlüsselbegriff. Ergänzend dazu helfen zukunftsweisende Mobilitätskonzepte, die dem veränderten Mobilitätsverhalten der Menschen unter anderem mit neuen, innovativen Mobilitätsangeboten Rechnung tragen, Verkehre und in der Folge Verkehrsflächen zu reduzieren. Dass alle diese Maßnahmen zum Erhalt der Biodiversität in urbanen Lebensräumen beitragen, ist in Expertenkreisen unbestritten. Wie sich Tiere und Pflanzen in Städten konkret entwickeln und ihr Überleben sichern, wird noch genauer erforscht (6). Auch, wie die urbanen Ökosysteme funktionieren.

Unbestritten ist: Qualitativ hochwertige Grünflächen erhöhen insbesondere in verdichteten Stadträumen die Lebensqualität der Menschen. Sie fungieren als Naherholungsflächen, sind Orte für Begegnungen und leisten einen wichtigen Beitrag zum Erscheinungsbild von Quartieren. Stadtgrün übernimmt zudem vielfältige Funktionen für eine klimagerechte Stadtentwicklung. Kurzum: Grüne Infrastrukturen sind die Lebensadern einer Stadt. Für den Mensch ebenso wie für Flora und Fauna.

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Stadtökologie als Forschungsfeld

Die Weltbevölkerung wird in den nächsten Jahren noch weiter zulegen. Jeder einzelne Mensch braucht Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Der anhaltende Zuzug und das Wachstum der Städte ist somit „Fluch und Segen“ zugleich. Viele Zielkonflikte, die damit einhergehen, müssen verhandelt werden. Es geht um den Erhalt der Vielfalt der Stadtgesellschaft, denn sie ist wichtig für die Demokratie. Es geht aber auch um den Erhalt der Biodiversität, denn sie ist für das Überleben der Menschheit essentiell. Städte können ein Teil der Lösung sein und die Immobilienwirtschaft für sie ein wichtiger Bündnispartner. Denn Gebietsentwickler tragen die Verantwortung dafür, lebenswerte Wohnquartiere zu entwickeln, in denen sich auch zukünftige Generationen Zuhause fühlen können. Stadtökologie ist längst zu einem eigenen Forschungsfeld geworden. Die gewonnen Erkenntnisse werden maßgeblich dazu beitragen, Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, um den Lebensraum Stadt in ökologischer Hinsicht nachhaltig und zukunftssicher zu gestalten.

 

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