Auf den Boden hören

Boden und Wasser müssen künftig bei der Gebietsentwicklung führend sein, schrieb der niederländische Wohnungsminister Hugo de Jonge in seinem Brief über Raumordnung vom Mai 2022. Darin fordert er auf, „wieder darauf zu hören, was Boden und Wasser zu sagen haben“. Doch wie soll das bei einer neuen Gebietsentwicklung umgesetzt werden? Unterwegs mit der Bodenökologin Ciska Veen in dem neuen Dorf Hoef en Haag nahe Utrecht.
BPD Magazin Nr. 16
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Foto: Annelien Nijland

Spaziergang durch das Neubaugebiet Hoef en Haag

„Wir sind in den vergangenen Jahrzehnten schlecht mit dem Boden umgegangen“, sagt Ciska Veen zu Beginn unseres Spaziergangs. „Nahrungsmittelanbau mittels intensiver Landwirtschaft und vor allem mit Kunstdünger hat den Boden stark belastet. Der Boden ist jedoch nicht tot. Er kann sich erholen. Das ist sehr wichtig, denn der Boden ist die Basis von allem. Was sich im Boden abspielt, setzt sich oberirdisch fort. Im Boden befinden sich Organismen, die organische Reste abbauen. So werden Nährstoffe für Pflanzen und das Bodenleben verfügbar, und letztendlich entsteht so das Ökosystem, von dem wir für unseren Lebensraum, unser Klima und unsere Nahrung abhängig sind.“

Im Frühjahr 2016 wurde in Hoef en Haag der erste Stein für dieses neue Dorf am Lek bei Vianen (nahe Utrecht) gelegt. Bis 2030 sollen hier 1.800 neue Wohnungen, über drei Viertel verteilt, entstehen: Dorpshart [Dorfmitte], Lint [Reihenbebauung] und Erven [Höfe]. Für dieses städtebauliche Konzept stand der Charakter alter Festungsstädte am Fluss Pate. Ein Teil ist bereits fertiggestellt. Vieles ist noch im Bau. Die Siedlung ist eindeutig modern, doch die Architektur erinnert an vergangene Zeiten. An diesem Ort lag einst die mittelalterliche Stadt Hagestein, die 1405 – zusammen mit dem gleichnamigen Schloss – im Arkelschen Krieg völlig zerstört wurde. Die Umrisse des alten Schlossgrabens wurden von den Gebietsentwicklern BPD und AM wieder sichtbar gemacht. Am Dorfrand steht ein hölzerner Aussichtsturm mit einer Palisade.

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Foto: Annelien Nijland
Scherben

Ciska Veen ist Bodenökologin. Archäologie gehört nicht zu ihrem Fachbereich. Dennoch fällt ihr Auge sofort auf eine alte Topfscherbe am Rand einer Baustelle in der Dorfmitte, wo eine neue Schule gebaut wird. Ciska: „Solche Scherben – ich glaube nicht, dass sie sehr alt ist – kommen aus dem Schutt, der als Tragschichtmaterial hierher transportiert wurde. In den Niederlanden wird für den Bau viel Erde hin- und hertransportiert. Das verstehe ich, aber für die Pflanzen ist das nicht unbedingt förderlich. Auf Baustellen herrscht manchmal ein ziemliches Chaos. Wie hier zum Beispiel, da liegt eine Coladose. Es kann gut sein, dass Menschen in über tausend Jahren diese Dose im Boden finden, die sie dann genauso als einen Schatz ansehen wie wir die mittelalterlichen Münzen.

Unter einem Pflasterstein ist wenig Bodenleben zu finden.
Ciska Veen
Abteilungsleiterin im niederländischen Institut für Ökologie [Nederlands Instituut voor Ecologie] in Wageningen
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Foto: Annelien Nijland
Den ursprünglichen Boden bewahren

Wir gehen durch die Otto van Asperenstraat. Ciska: „Nette Straße, aber ziemlich viele Steine. Die Bürgersteige und Straßen sind nahezu komplett versiegelt, fast städtisch. Hier wächst ein wenig Grün um einen Baum herum, aber ansonsten ist wenig vom Boden zu sehen. Das wäre sehr gut machbar! Entlang der Häuser würde ich gerne Mini Vorgärten sehen. Dort entsteht Bodenleben und damit auch Biodiversität.“ Sie erklärt: „Unter einem Pflasterstein ist wenig Bodenleben zu finden. In dem Boden ist keine Luft, kein Wasser und kein Licht. Die Entwicklung einer Neubausiedlung beginnt damit, dass Lehm durch Sand ersetzt wird. Der ursprüngliche Boden wurde hier also abgetragen. Mir ist klar, dass das nicht anders geht, es müssen nun einmal neue Wohnungen gebaut werden. Dazu gehört auch die Anlage von Kanalisation und Versorgungseinrichtungen, die den Boden auf mannigfache Weise verändern. Es wäre auch möglich, einen Teil des Bodens zu bewahren und sorgfältig damit umzugehen. An manchen Stellen wäre das sehr gut möglich. Darin sind wir in den Niederlanden inzwischen viel besser geworden als früher.“ Dies zeigt sich im weiteren Verlauf des Spaziergangs, beispielsweise bei dem Meander, einem neuen Wasserlauf quer durch Hoef en Haag. Er erinnert an den Flussarm, den es hier einst gab. Die Wasserstände sind dynamisch, sodass fluktuierende Flusswasserstände ausgeglichen werden können. So ist das Dorf für den Klimawandel gerüstet. Und die Bewohner können natürlich das Wasser genießen.

Entwurf vom Untergrund aus

In vielen Fällen findet die Gebietsplanung noch immer vom Grundriss aus statt. Zuerst wird festgelegt, was oberirdisch angelegt werden soll – Straßen, Gebäude, Wohnviertel – und anschließend wird untersucht, welche Lösungen im Boden gefunden werden müssen. In Amsterdam geht es anders an. Die Stadt ist ein Zusammenspiel ober- und unterirdischer Bauwerke. ‚Es ist jetzt wichtiger denn je, dass wir diese in ihrem Zusammenhang sehen’, sagt Hans van der Made, Stadtplaner der Gemeinde Amsterdam.

„Die Stadt steht vor vielen Herausforderungen. Wir müssen den Raum anpassen: an den Klimawandel, die Energiewende, Hitzestress und an ökologische Anforderungen. Alles Aufgaben, die wir im öffentlichen Raum lösen müssen. Gebäude stehen dabei nicht isoliert für sich, sondern haben eine Beziehung zur unter- und oberirdischen Infrastruktur, zum Wassersystem und zum Ökosystem. Wir müssen beispielsweise vom Gas weg und ein Wärmenetz anlegen, aber dazu gehört auch eine neue Infrastruktur. Und das, während der Boden häufig bereits voll liegt und der Raum in der Stadt durch Verdichtung zunehmend intensiver genutzt wird.“ Mit der „integralen Entwurfsmethode Amsterdam“ [IOOR], die 2021 eingeführt wurde, stellt sich die Hauptstadt dieser Herausforderung. Der Untergrund und die Mehrfunktionsnutzung stehen bei der integralen Planung des öffentlichen Raums an oberster Stelle. In Amsterdam Zuidoost wurden bereits Erfahrungen damit gesammelt. Van der Made: „Wir haben dort alle Straßen in 3D betrachtet. Nach der Bestandsaufnahme aller ober- und unterirdischen Aufgaben haben wir uns – zusammen mit Entwicklern und Netzwerkunternehmen – an die Planung gemacht.
Erst danach kommt der Entwurf ins Spiel.“ So wird vermieden, dass es plötzlich keinen Platz mehr für Bäume gibt, weil überall Kabel und Leitungen liegen. Oder umgekehrt. Dies drückt sich auch finanziell aus, sagt Van der Made. „Es lassen sich im Handumdrehen 9 oder 10 Millionen Euro sparen, wenn wir den Raum erst von allen Seiten eingehend betrachten. Wir haben ausgerechnet, dass alle Amsterdamer Straßen mindestens fünf Mal aufgebrochen werden müssten, wenn wir alle Aufgaben erfüllen wollten. Mit einer durchdachten Planung lässt sich das vermeiden.“ In der kommenden Zeit wird dieses Entwurfsverfahren auf breiterer Front eingeführt.

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Foto: Annelien Nijland
Wasser und Wildwuchs

Ciska: „Das ist schön. Wie grün es hier ist! All das Wasser ist ausgezeichnet für die Biodiversität.“ In der Ferne arbeitet eine Mähmaschine, die nicht alles wegmäht. „Phantastisch, hier wird also ökologisch gemäht. Ein großer Teil des hohen Grases bleibt stehen. Dazwischen wachsen überall Wildblumen, die Insekten anziehen. Nicht jeder ist übrigens von diesem ‚Wildwuchs‘ begeistert. Es gibt Leute, die hohes Gras mit Wildblumen als unordentlich betrachten. Deshalb ist es so wichtig, die Hintergründe dieser Mähstrategie gut zu kommunizieren.“

Manche Leute finden hohes Gras mit Blumen zu unordentlich.
Ciska Veen
Abteilungsleiterin im niederländischen Institut für Ökologie [Nederlands Instituut voor Ecologie] in Wageningen
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Foto: Annelien Nijland
Unbefestigte Ufer

Der Spaziergang führt uns weiter über den Weg mit Weiden am Ufer entlang. Ciska: „Hier wurde ein schönes unbefestigtes Ufer geschaffen, ganz anders und so viel besser als die befestigten Ufer, die es überall gibt. Die Biodiversität an solchen unbefestigten Ufern ist oft groß, hier ist Leben. Für diese Ränder gibt es Samenmischungen mit einheimischen Sorten. Die wurden hier gesät! Sehen Sie, hier steht Klee. Diese Pflanze kann hervorragend Stickstoff aufnehmen und binden. Stickstoff ist eine wichtige Nährstoffquelle für Pflanzen, doch leider haben wir in den Niederlanden zu viel davon.“ Generell, sagt Ciska, sollten an diesen Orten Pflanzen gesät werden, die in das ursprüngliche Habitat passen. „In diesem Fall eine reiche Vegetation, die zum Lehmboden der Auenlandschaft passt. Lehm an sich ist sehr nährstoffreich. Und dann sollte nicht zu viel gemäht werden. Dennoch ist Mähen wichtig. Ohne zu mähen, würde alles wuchern, und in kürzester Zeit würden hier Bäume wachsen.“

Der Boden ist die Basis von allem. Was sich unterirdisch im Boden anspielt, setzt sich oberirdisch fort.
Ciska Veen
Abteilungsleiterin im niederländischen Institut für Ökologie [Nederlands Instituut voor Ecologie] in Wageningen
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Foto: Annelien Nijland
Mehr Pflanzenarten erforderlich

Junge Bäume stehen in Reih und Glied auf einem Rasen mit zwei einzelnen Pflanzkästen; wir sind in der Hagesteinstraat. Ciska: „Hier haben wir etwas weniger Steine als in der Straße, in der wir vorhin waren. Aber dieser Grasstreifen ist doch ein wenig mager. Das Gras wird hier kurz gehalten; an dieser Stelle hätte ich lieber ein Blumenmeer gesehen. Trotzdem, wer gut hinschaut, sieht viele verschiedene Pflanzenarten. Je mehr Arten, desto besser kann der Boden das Wasser festhalten, und das ist sowohl für trockene als auch sehr feuchte Zeiten von Vorteil.“ Die Bedeutung des Bodens kann nicht hoch genug geschätzt werden, betont sie. „Der Boden sorgt für Biodiversität, die für die Nahrungskette so wesentlich ist. Doch der Boden ist auch ein wichtiger Wasser- und Kohlenstoffspeicher. Nicht nur Pflanzen, sondern auch Böden können Kohlenstoff aufnehmen. Das gilt überall, und es geschieht überall. Innerhalb und außerhalb der Stadt und hier, im Zentrum eines Dorfs.“

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Blumenmeer

„Wunderschön, die Margariten im hohen Gras.“ Etwas weiter am Wasser steht ein Meer von Blumen. „Sehen Sie diese Pflanze? Das ist wolliges Honiggras. Sie erinnert ein wenig an den gestreiften Schlafanzug von Opa. Nicht selten, aber schön anzusehen. Mir gefällt vor allem die Abwechslung zwischen hoher und niedriger Vegetation. Diese unterschiedlichen Strukturen sorgen für Mikro-Lebensräume und fördern die Biodiversität. Die Vielfalt der Pflanzensorten bietet hier nämlich vielen verschiedenen Insektenarten einen geeigneten Lebensraum mit genügend Nahrung. Und diese Insekten ziehen dann natürlich wieder andere Tiere an.“

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Wasserdurchlässiger Boden

Am Valse IJsboutpad wurde der Boden wasserdurchlässig gemacht. Außerdem wurden die Parkplätze anders gestaltet, als man sie in der Regel sieht: Durch das Rasengitter – eine offene Befestigung – kann das Regenwasser direkt in den Boden einsickern. Es wird also nicht abgeleitet. Ciska: „Das ist wirklich ausgezeichnet. Zwischen den Rasengittersteinen wächst alles Mögliche, und das fördert den Pflanzenreichtum und die Biodiversität. Aber auch das wirkt auf manche Menschen sehr unordentlich. Die wollen einen glatten, schön asphaltierten Parkplatz. Auch in diesem Fall ist eine gute Kommunikation das A und O.“

Wir sind in den vergangenen Jahrzehnten schlecht mit dem Boden umgegangen. Aber der Boden ist nicht tot! Er kann sich erholen.

Ursprünglicher Lehmboden

Am Ende des Meanders steht ein begrüntes Beton-Bauwerk: ein Fledermaushotel. Durch die ausgesparten Öffnungen, die zusammen die Buchstaben H & H bilden, können die Fledermäuse ein- und ausfliegen. Behände springt Ciska auf die Konstruktion. „Phantastisch. Dass es hier Fledermäuse gibt, heißt, dass es auch viele Insekten gibt, denn davon ernähren sie sich. Und die Insekten können hier natürlich nur leben, weil überall Blumen blühen.“ Sie zeigt auf den Boden und verkrümelt einen Erdklumpen zwischen den Fingern. „Hier gibt es noch den ursprünglichen Lehm.“ Der Pflanzenreichtum ist hier plötzlich auffallend groß. Ciska: „Je mehr Lehmboden bewachsen ist, desto besser, denn das wirkt der Austrocknung entgegen. Alles in einem Ökosystem lebt vom Boden mit den richtigen Pflanzen. Ein gesunder Boden hat viele Funktionen. Er speichert Kohlenstoff, hat eine große Biodiversität, liefert Nährstoffe für die Pflanzen, hält bei Trockenheit Wasser fest und nimmt bei starkem Regenfall Wasser auf.“ Das Pflanzen- und Blumenparadies an dieser Stelle lässt einen fast vergessen, dass der niederländische Boden insgesamt in einer schlechten Verfassung ist. Vielerorts ist er durch die intensive Landwirtschaft stark verdichtet. Dünger, Versauerung, Stickstoff, Verschmutzung, Versteinerung und Austrocknung belasten den Boden stark. Stickstoffkrise, PFAS-Krise, Überschwemmungen: Bei all diesen Problemen spielt der Boden eine Hauptrolle. In Bezug auf die Gebietsplanung in den Niederlanden müssen wir in den kommenden Jahren viel mehr auf das hören, was der Boden zu sagen hat. Hoef en Haag zeigt, dass es genug Möglichkeiten gibt, den Boden mit Respekt zu behandeln und gleichzeitig ein neues Wohngebiet zu realisieren.

Wir sind in den vergangenen Jahrzehnten schlecht mit dem Boden umgegangen. Aber der Boden ist nicht tot! Er kann sich erholen.
Ciska Veen
Abteilungsleiterin im niederländischen Institut für Ökologie [Nederlands Instituut voor Ecologie] in Wageningen
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Ausgrabung bringt mittelalterlichen Schatz hervor

Es kommt immer wieder vor, dass bei Grabungsarbeiten in neuen Gebietsentwicklungen Schätze im Boden gefunden werden. 2017 wurde bei Grabungsarbeiten in Hoef en Haag ein Topf mit Münzen gefunden. Der sogenannte Münzschatz von Hagestein bestand aus einem tönernen Topf mit fünfhundert Goldund Silbermünzen aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Als größter mittelalterlicher Münzschatz der Niederlande ist dieser Fund von nationaler Bedeutung und wurde deshalb in die staatliche Sammlung aufgenommen. So bleibt der Fund als Ganzes erhalten. Der Münzschatz ist sowohl im städtischen Museum von Vianen [Stedelijk Museum Vianen] als auch im nationalen archäologischen Museum [Rijksmuseum van Oudheden] in Leiden zu sehen.

 

stedelijkmuseumvianen.nl

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